
„Mirko!“
Eine Frauenstimme ruft meinen Namen.
Ich drehe mich auf meinem Stuhl um.
„Mirko, bist du das wirklich, Mirko Abel?“
Die Gäste an den Nebentischen schauen hoch, die Bedienung balanciert ihr Tablett, sieht mich böse an, als hätte ich Mirko gerufen und ich suche die Frau, die zu der Stimme gehört.
Zwischen den Caféhaustischen winkt eine Frau mit der Figur einer russischen Balletttänzerin und einem Gesicht, das nur aus Augen besteht, und kommt auf mich zu.
Ich erkenne sie sofort.
Julia.
Obwohl zehn Jahre vergangen sind. Zehn Jahre und ein Mauerfall.
Vor zehn Jahren saßen wir gemeinsam in einer Klasse in Leipzig. Und heute treffen wir uns wieder in einem Café in Berlin. Westberlin.
Julia stürzt sich auf mich. Impulsiv, stürmisch, lachend. Wir umarmen uns, klopfen uns mit flachen Händen auf die Schultern.
Julia.
Sie hat immer gelacht, sprudelte über vor Tatendrang, spielte Theater, Volleyball und hat alle Jungs in der FDJ verrückt gemacht.
Mich auch.
Schmerzhaft erinnere ich mich. So viele Nächte, in denen ich alleine war. Allein mit mir und meinen Gedanken an Julia. An die blaue Bluse, ihre Brüste, die Beine, ihre wirbelnden Haare, das Lachen.
Julia lacht auch jetzt, sie nimmt keine Rücksicht auf die anderen Gäste im Café.
„Wie schön Mirko“, sie klatscht in die Hände wie ein kleines Mädchen.
„Du hast dich nicht verändert, ich habe so oft an dich gedacht. Was machst du, wie geht es dir, wo wohnst du, was arbeitest du?“
Sie feuert ihre Fragen in einem Stakkato ab, das mir den Atem nimmt.
„Komm setz dich, Julia!“
Ich unterbreche ihren Redeschwall und schiebe sie auf einen Stuhl. Die Aufmerksamkeit der anderen Gäste lässt nach.
Ich habe auch oft an sie gedacht.
Ein halbes Jahr vor dem Fall der Mauer war sie abgehauen. Republikflucht. Über Ungarn in die BRD. Ich betrachte sie. Den Kopf in die Hände gestützt strahlt sie mich an. Sie hat sich verändert. Aus einem hübschen Mädchen ist eine schöne Frau geworden. Schmal ist sie, zu schmal, aber ihre Augen leuchten.
„Du trägst die Haare kürzer, das steht dir.“
Glatt gelogen, ich habe immer für ihre langen Haare geschwärmt, die sich um ihren Kopf legten wie ein goldener Schleier.
„Du siehst gut aus, Mirko.“
Da ist es wieder, das Ziehen, das ich im Magen gespürt habe, wenn ich ihre Stimme hörte oder nachts in meinem Bett an sie dachte. Jahrelang war dieses Gefühl verschwunden. Vergessen und verdrängt. Und jetzt ist es wieder da.
„Du warst plötzlich weg.“
Julia nickt.
„Ich wollte studieren, Mirko, und ich wollte leben. Ich wollte tanzen und schauspielern und alle die Dinge machen, die ich dort nicht machen konnte.“
Julia hat „dort“ gesagt. Nicht „in der DDR“ oder „bei uns“.
„Ich konnte mit niemandem darüber sprechen, Mirko. Nicht einmal mit dir. Es war zu gefährlich. Weißt du? Auch für dich.“
Ja ich weiß. Ich habe manches gewusst. Jeden Monat habe ich Berichte geschrieben. Berichte an die Stasi. Julia kam auch vor in diesen Berichten. Ihre Republikflucht kam nicht vor. Ich wusste ja auch nichts davon. Aber ich habe etwas geahnt. Habe über ihre kritische Haltung geschrieben, ihren Zorn, ihr Aufbegehren. Vielleicht wollte ich ja nur verhindern, dass sie wegging. Meine Gefühle gingen niemanden etwas an, auch meinen Führungsoffizier nicht. Er hat wohl mächtig Ärger bekommen, als Julia abgehauen war.
Stumm nicke ich.
„Woran denkst du, Mirko?“
Wenn ich ihr jetzt sage, dass ich IM war, dass ich Berichte geschrieben habe, dass sie in diesen Berichten vorgekommen ist, wird sie aufstehen, mich ansehen und gehen. Sie wird mich verachten. Bestenfalls. Wenn sie sich überhaupt noch mit mir abgibt.
„An uns.“
Das stimmt sogar. Mühsam lächele ich. Auch Lächeln kann gelogen sein.
„Ach Mirko.“
Julia seufzt.
„Du hast mir so gefehlt.“
Julias Augen schimmern.
Ich liebe diese Frau, ich habe sie immer geliebt. Jetzt ist sie mir so nah, wie niemals zuvor in meinem Leben und weiter entfernt von mir, als ich es ertragen kann.
Ich nehme ihre Hand. Schmale Finger, hell glänzende Fingernägel. Meine Fingerkuppen streichen über ihren Handrücken. Ich spüre Gänsehaut.
„Komm!“
Nur ein Wort.
Wir stehen hastig auf, ich bezahle und wir verlassen das Lokal wie zwei Flüchtende. Ich fliehe vor meiner Vergangenheit, fliehe ich auch vor meinem Leben? Aber ich fliehe zusammen mit der Frau, die ich liebe. Wir fahren in meinem kleinen Auto zu ihrer Wohnung. Das Treppenhaus stürmen wir hinauf, Hand in Hand. Vor der Wohnungstür ziehe ich sie an mich. Atemlos. Ich muss Julia jetzt küssen. Unsere Lippen suchen sich, finden sich, gleiten ab, drängen weiter. Ihre Lippen glühen auf meinem Gesicht, wir pressen uns aneinander wie Ertrinkende. Julia schließt die Wohnungstür auf. Wir stolpern in den Flur. Keuchend halten wir inne.
Julia lehnt sich an die Wand. Ich nehme nichts wahr. Nur sie. Ich will sie streicheln, berühren, besitzen.
Jetzt!
Sie zieht mich in ihr Schlafzimmer. Zwei Verliebte reisen zusammen in das Paradies. Alles, was ich vor über zehn Jahren erträumt habe, geschieht jetzt und gleichzeitig passiert nichts davon. Ihr Körper fühlt sich anders an, als ich damals geträumt habe. Sie ist so fest. Wie eine Katze bewegt sie sich. Spannung und Nachgeben. Fordern und Anschmiegen. Das Blut rauscht in meinem Kopf. Ich spüre das Zittern ihrer Bauchmuskeln. Ich höre ihr Knurren, wenn ich mich in ihr bewege und ich rieche ihre Haut, die nach Zitronen und nach Gras duftet. Endlich weiß ich, was Glück bedeutet.
Einen Moment hält sie inne, in ihrer Bewegung. Erstarrt. Julia hält mich fest, zieht mich an sich. Ihr Kuss saugt an mir, beißt mich und hält mich fest. Ganz fest. Zitternd liegen wir nebeneinander.
Julia keucht.
Ich starre an die Decke.
„Mirko.“
Julia sagt nur ein Wort, nur dieses eine Wort.
Und ich denke: Julia.
Ich denke es, als ob ich nie mehr etwas anderes denken kann.
Später trinken wir im Wohnzimmer Tee. Julia sitzt im Schneidersitz auf der Couch und hält die Tasse zwischen den Händen. Sie erzählt von ihrer Flucht, von Ungarn und der ersten Zeit in der BRD.
Nein, „BRD“ sagt sie nie, sie sagt „Westdeutschland“ und mir fällt immer wieder das Kürzel „BRD“ ein, wenn sie erzählt.
„Ich wollte nichts mehr zu tun haben, mit meinem alten Leben, weißt du?“
Ihre nackten Zehen bewegen sich.
„Es war mir alles egal, ich habe nur nach vorne gesehen, nie mehr zurück. Das Einzige, was mich an die alte Zeit erinnert hat, warst du. An dich habe ich oft gedacht. Und ich habe oft bedauert, mich nicht wenigstens von dir verabschiedet zu haben. Du warst der einzige, dem ich hätte vertrauen können.“
Jedes Wort frisst sich tief in mich ein.
Was soll ich sagen?
Was kann ich sagen?
Nur nach vorne sehen, denke ich. Ja, das ist es. Nicht zurückschauen. Was gewesen ist, zählt nicht mehr. Nur das jetzt und hier.
Ich weiß, dass das gelogen ist. Jämmerlich gelogen und feige. Aber ich weiß auch, dass es keine Alternative gibt. Schade, dass dies das Leben ist und kein Hollywoodfilm. Da geht alles immer gut aus. Wir werden kein Happy end haben, fürchte ich. Oder doch?
„Ich bin so froh, dass wir uns getroffen haben“
Julias Stimme löst immer noch kleine Stromschläge in meinem Magen aus.
„Ja, ich auch.“
Meine Antwort klingt lahm, aber Julia nimmt sie begeistert auf.
Drei Tage später ziehe ich bei Julia ein, obwohl ich eine Wohnung in der gleichen Stadt habe. Die Zweiraumplatte in Marzahn behalte ich. Was soll ich auch sonst mit ihr machen? Es stört Julia nicht, dass ich keinen Arbeitsplatz habe, sie will auch nicht wissen, warum ich in den letzten sechs Jahren sieben mal rausgeflogen bin und meinen Job verloren habe. Ich nehme an, dass sie es nicht wissen will, vorsichtshalber erzähle ich es ihr nicht. Es gibt eine Menge Jobs, bei denen sich niemand um meine DDR-Vergangenheit schert. Aber ich finde keine Wurzeln mehr. Habe nie welche besessen.
Drei Jahre Arbeit für die Stasi. Jahre, in denen ich überzeugt war, meine Pflicht zu tun. War es nicht der Staat, der wollte, dass ich tat, was ich getan habe? Ich habe berichtet. Lückenlos, aufrichtig und gewissenhaft.
Gewissen.
Hatte ich ein schlechtes Gewissen? Alles, was ich berichtet habe, hatte sich so zugetragen. Ich habe nichts berichtet, was nicht offensichtlich war. Was nicht jeder, oder viele wussten, oder wissen konnten, wenn sie es wollten.
Jetzt liege ich nachts wach neben Julia und führe fiktive Diskussionen. Ich diskutiere mit Julia ohne ein Wort zu sagen. Ich höre ihren Atemzügen zu, manchmal, wenn sie sich umgedreht hat, sehe ich ihren Körper an, ihre langen Beine, den flachen Bauch und ihre Brüste, die sich heben und senken in gleichmäßigem Rhythmus.
Ich rede mit ihr, ohne zu sprechen. Mir fallen Argumente ein, mit denen ich mich selber überzeugen will, und mich nicht einmal überreden kann. Ist es möglich, jemanden zu überreden, etwas zu begreifen und zu verstehen?
Nach der Wende war alles anders. Niemand hatte gewusst, wie viele Mitarbeiter der Stasi es gegeben hat. Das Wort „IM“ habe ich erst nach der Wende kennengelernt. Mein Führungsoffizier hatte mir versichert, dass alle Unterlagen vernichtet seien. Ich habe ihm geglaubt, weil ich diesen Staat nicht gekannt habe. Die meisten seiner Bürger haben ihn nicht gekannt. Gründlich und systematisch war Material angehäuft worden. Schon das Passiv ist verräterisch. „…war angehäuft worden“. Wer hat angehäuft.
Ich?
Natürlich!
Ich habe dazu beigetragen, wie so viele andere auch. Kann heute Unrecht sein, was damals recht war? War es damals Recht? War es gerecht? War es richtig?
Viele Fragen begleiten meine schlaflosen Nächte neben Julia. Morgens zwischen drei und vier Uhr ist es am schlimmsten. Die Stunde der Depressionen, habe ich gelesen. Depressive wachen nachts häufig auf. Immer gegen drei oder vier Uhr. Bin ich depressiv?
„Du wirkst so still, bist du nicht glücklich?“
Julia fragt mich das oft. Sie gibt selbst die Antwort.
„Natürlich bist du das. Mit mir kannst du doch nur glücklich sein. Ich bin so happy.“ Dann umarmt sie mich und gibt mir einen Kuss.
Ich bekomme ein flaues Gefühl im Magen, eine Erektion und Kopfschmerzen. Alles gleichzeitig. Und nachts liege ich dann wieder wach und formuliere kleine Vorträge an Julia, die ich nie halte.
Sie wollte nichts mehr mit der DDR zu tun habe. Sie wollte nichts mehr wissen von dem System, von dem Leben in der DDR, von der Staatssicherheit. Erst jetzt, da wir uns getroffen hätten und zusammen seien, jetzt sei sie in der Lage, sich mit allem auseinanderzusetzen, jetzt wolle sie alles wissen.
Julia hat Einsicht in ihre Stasiakte beantragt. Vor sechs Wochen.
Heute stehe ich in meiner Plattenwohnung, sehe in den Spiegel und habe Angst vor Julia. Manchmal treffen wir uns bei mir. Sie hat einen Schlüssel. Es ist kurz vor neun und um neun Uhr wollte sie kommen, hat sie gesagt.
Ich versuche, die kleinen Fältchen unter meinen Augen zu zählen. Wenn ich die Augen zusammenkneife, werden es mehr. Kerben des Lebens und Zeugen meiner Niederlagen. Bei 23 höre ich auf, zu zählen. Es sind keine Lachfalten, schon lange nicht mehr und ich habe eine Scheißangst.
Ich sehe meine Augen im Spiegel und spüre den eiskalten Tennisball im Magen. Als Julia mich anrief, habe ich es sofort gewusst.
“Ich komme morgen früh um neun“, hat sie gesagt, sonst nichts. Trotzdem habe ich es gewusst. An ihrer Stimme, rau, zitternd, habe ich es erkannt. Und jetzt ist es neun. Ich muss nicht auf die Uhr sehen, ich höre den Schlüssel im Schloss. Julia ist immer pünktlich.
Ich drücke mich vom Waschbecken ab und will mich von meinem Spiegelbild verabschieden, aber mein Lächeln misslingt.
Dann sitzen Julia und ich am Tisch und sehen dem Kaffee dabei zu, wie er in den Tassen kalt wird. Sie zeichnet mit einem Fingernagel die Blume auf der Plastiktischdecke nach und mir fällt ein, wie lange es her ist, dass ich diesen Finger geküsst und an ihm gelutscht hat. Zwei Nächte denke ich und kratze mich am Nacken.
Vor mir liegt ein grauer Aktendeckel, dem man sein Alter ansieht. Julia hat ihn mitgebracht. Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen, aber ich weiß genau, was darin steht. Julia weiß es auch, immerhin hat sie es ja gelesen.
Und jetzt weiß ich, dass Julia die Akte kennt und Julia weiß, dass ich das weiß. Klingt kompliziert, ist aber ganz einfach.
Julia sieht auf und schaut zwei Zentimeter an mir vorbei.
„Wie konntest du das tun?“
Ihre Lippen zucken, als sie versucht, sie zusammenzupressen, und der Zeigefinger zeichnet keine Linien mehr.
„Ich…..“, Ich sehe auf Julias Zeigefingernagel. Wenn sie wieder anfängt zu malen, wird alles gut, denke ich. Julia hebt den Arm, ballt die rechte Hand zur Faust und lässt sie auf den Tisch fallen. Sie schlägt nicht auf den Tisch. Die kleine Faust fällt wie ein Spatz, den seine Geschwister aus dem Netz gedrängt haben. Lautlos.
Es wird nicht gut, denke ich und atme laut aus.
„Ich habe nicht gewusst…“ ich hasse es, zu stammeln.
Julia lacht bitter auf.
„Du hast es nicht gewusst?“ Sie sieht mich scharf an.
„Du hast mich geliebt.“ Ich bin über meinen Einwand selbst verblüfft.
Julia zuckt zusammen und ich weiß, dass sie gleich weinen wird.
Sie schaut zum Fenster. Ich folge ihrem Blick. Auf der anderen Seite der Straße noch einmal der gleiche Plattenbau und dahinter wieder einer und dahinter noch einmal zwölf. Fünfzehn mal Förderung des privaten Wohnungsbaus für Arbeiter und Kinderreiche.
„Ich habe deine Sicherheit geliebt, deinen Optimismus.“, sagt sie.
Julia weint noch nicht.
Ich liebe sie.
Julia sieht mich an.
„Ich habe einen Verräter geliebt.“
Ich zucke zusammen.
„Du weißt nicht, wie das war.“ Ich spüre, dass ich schlucken muss, aber ich will jetzt nicht schlucken. Schlucken zeigt Verlegenheit und Schwäche.
„Nein, das weiß ich nicht.“ Julias Stimme zittert. Sie flüstert. „Erzähle es mir, wie war es denn? Ich habe in dem gleichen Land gelebt, wie du, in der gleichen Stadt. Ich bin in die gleiche Schule gegangen. Wie haben die immer gesagt: „Sozialistisch arbeiten, lernen und leben!“ Was war ich blöd. Ich habe nichts gewusst, gar nichts.“
Jetzt weint Julia.
Ich stütze die Ellbogen auf den Tisch und halte mein Gesicht mit beiden Händen fest, als hätte ich Angst, mein Kopf könnte vom Hals fallen.
„Was haben die aus uns gemacht?“
Julia zuckt zusammen.
„Aus uns?“
Sie ballt beide Fäuste, dass die Fingerknöchel weiß hervortreten.
„Aus dir, Mirko Abel, nicht aus uns!“
Ich sehe Julias Augen, die roten Ränder, den verschmierten Lidstrich und rieche ihr Parfüm. Obwohl wir am gleichen Tisch sitzen, spüre ich die Entfernung, die uns trennt.
„Wir müssen reden. Wir gehören doch zusammen. Gib uns eine Chance!“ Ich schmecke meine Worte, die schal schmecken, aufgewärmt, langweilig, grau.
Sie schüttelt den Kopf. Sie trägt ihr Haar zu kurz, denke ich. Wie habe ich es geliebt, wenn ihre langen Haare ausgelassen um ihren Kopf flogen.
„Du hast viel geredet, Mirko, zu viel und zu lange. Und du hast viel zu viel geschrieben.“
Julia starrt auf den Aktendeckel auf dem Tisch und ich vermeide es, auf den Tisch zu schauen.
„Ich konnte nicht anders, Julia. Ich habe an den Staat geglaubt, wir wollten etwas aufbauen, eine bessere Welt.
Ich weiß, wie hohl das klingt und höre mir selber beim Reden zu, als säße ich in einem muffigen Kino, in dem ein schlechter Film läuft.
Julia hustet.
„Es ist vorbei Mirko. Die Zeit der sozialistischen Phrasen ist vorbei. Es gibt jetzt andere Phrasen. Du wirst dich umstellen müssen. Und sag nicht, du hättest das alles für uns getan. Dann schreie ich ganz laut.“
Ich fühle mich durchschaut, ich weiß, dass Julia schreien würde und ich weiß, dass sie recht hat.
„Mirko, ich verstehe das nicht, ich verstehe dich nicht, wie konntest du das tun?“
Ich denke darüber nach, ob ich mich selber verstehe. Ich habe so oft und solange darüber nachgedacht, dass ich meine stummen Dialoge als Theaterstück aufführen könnte.
Julia steht auf.
„Lies diesen Dreck.“ Sie zeigt mit dem Kinn auf den grauen Aktendeckel, der immer noch auf dem Tisch liegt. „Lies es und du wirst sehen, was du aus dir gemacht hast. Ich will es nicht mehr sehen und ich will dich nicht mehr sehen. Nie mehr!“
Als Julia gegangen ist, sitze ich am Tisch und starre auf die Akte. Ich spüre das glimmende Feuer der Scham und ich weiß, dass ich es nicht löschen kann.
Pappgrau und abgegriffen. Durch wie viele Hände ist dieses Zeugnis meines Verrats gegangen?
Kopien, Stempel, Berichte.
Ich sehe auf die Registernummer der Hauptabteilung II und lese den Decknamen:
„Kain“.
„Streng geheim“ steht oben rechts. Unterstrichen.
Nichts ist mehr geheim.
Ich will ihn nicht lesen, ich kann ihn nicht lesen, jetzt noch nicht:
Den IM-Vorgang „Kain“ unter der Reg.-Nr: 3304 178 /81.