Ulf Poschardt, Chefredakteur der Welt, stutzt die Kanzlerin der Bunderepublik Deutschland am 3. Februar 2021 in einem  Artikel unter dem Titel „Die kühle Bagatellisierung der Freiheitsbedürfnisse“ zurecht. „Autoritär anmutende Objektivität“ unterstellt er ihr, „die sich über den Doppelpass zwischen Wissenschaft und Politik legitimiert sieht.“ Liest man das – bei Poschardt ungewohnt – gestelzte deutsch noch einmal und übersetzt es in eine allgemeinverständliche Sprache, liest sich der Vorwurf an die Regierungschefin harmloser:
Frau Merkel holt sich Rat bei Wissenschaftlern und befolgt ihn sogar, weil sie glaubt, damit ihren Auftrag am besten zu erfüllen.

Angeblich, so Poschardt, verweigert die Kanzlerin sich und ihr Regierungshandeln der Diskussion und wirft, weil sie behauptet, „im Großen und Ganzen“ sei nichts schiefgegangen, einen Schatten auf das politische Fundament unserer Demokratie. Geht es nicht ein wenig kleiner, Herr Poschardt?

An anderer Stelle weist Herr Poschardt und die WELT häufig und zu Recht darauf hin, wie lächerlich es wirkt, wenn Politiker der AfD ausgerechnet in Talk-Shows und Interviews behaupten, niemand höre ihnen zu und man dürfe in diesem Land nicht mehr alles sagen. Wenn Frau Merkel, wohlgemerkt in einer Interviewsendung mit Journalisten, ihre Meinung sagt, wird ihr das von Herrn Poschardt als „abgehoben“ ausgelegt.

„Die Entmündigung der Bürger“ spiegele sich in der Infantilisierung der politischen Liturgie, so der nächste Vorwurf von Herrn Poschardt. Frau Merkel spricht eine Sprache, die nicht allen gefällt, aber die jeder versteht. Das unterscheidet sie von vielen Sprechblasen-Journalisten, die schon lange nicht mehr ausgebildet werden, klar und verständlich zu schreiben. Politik ist eben kein Gottesdienst und Frau Merkel nicht die Hohepriesterin des Mainstreams und der Meinungsumfragen.

Und was ist denn jetzt das Schreckliche an Merkels Satz „Es wird keine neuen Freiheiten geben.“?

Wer ihr genau zuhört wird eine andere, einfache Botschaft entdecken. Aber Zuhören ist die Sache vieler Journalisten nicht, schon gar nicht das „genaue“. Die Versuchung ist zu groß aus dem Satz eine Botschaft zu machen, aus der Botschaft eine überspitzte Meinung und aus dieser Meinung einen Skandal. Diese Sucht nach dem Skandalon zeugt als Reaktion Generationen von Politikern, die sich nur noch in unauffälligen Sprachmustern bewegen, das Banale zur Botschaft hochziehen und immer die gleichen Antworten, egal auf welche Frage, geben, weil ihre Sprecher ihnen genau diese Antworten vorgestanzt haben.

Es wird keine neuen Freiheiten geben. Wie richtig dieser Satz ist, wird deutlich, wenn man sich die Negation ansieht. Hätte Frau Merkel gesagt „In wenigen Wochen wird es ganz neue Freiheiten und eine Ungleichbehandlung aller Menschen in Deutschland geben“, wären Heerscharen von Juristen über sie hergefallen und hätten sie – zu Recht –  für abgehoben und unverantwortlich gescholten, mit Ausnahm von Herrn Poschardt vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Lehre: Nur der Politiker, der nichts sagt, sagt auch nichts Verkehrtes. Dann aber wäre der Vorwurf der Diskussionsverweigerung wenigstens berechtigt.

Und wann kommen wir endlich zu den Inhalten? In dem Artikel von Ulf Poschardt gar nicht. Er verliert sich im Staatsphilosophischen. Freiheitsbedürfnisse würden von Wissenschaft und Politik „kühl bagatellisiert“. Das war alles, was er inhaltlich beizutragen wusste.

Das Gegenteil von bagatellisieren ist aufbauschen oder überhöhen. Da muss man natürlich auch sofort den Artikel 1 des Grundgesetzes und die Menschenwürde bemühen, es geht nun mal nicht in kleinerer Münze. Mag sein, dass das Corona-Virus uns alle stark einschränkt, die einen (viel) mehr, die anderen (etwas) weniger. Aber es ist das Virus, nicht die Exekutiven und Gerichte, die das tun, schon gar nicht mit Freude und Wollust und es sind auch nicht immer und nur „Schurken am Werk“, um den Ministerpräsidenten von Baden Württemberg zu zitieren, wenn etwas nicht oder nicht sofort klappt.

Ich glaube Herrn Poschardt sogar, dass er mit Feuereifer und großer Sorge beobachtet, wie unsere Demokratie Schaden nimmt, wie unsere Gesellschaft gespalten wird, wie Hass und Unvernunft, Ignoranz und Intoleranz die Lufthoheit über den Mainstream zu gewinnen suchen, bei der Bekämpfung des Corona-Virus geht es aber – zunächst – um etwas ganz anderes: es geht um das Überleben. Der zweite Lockdown war überhaupt nur möglich, weil unserem Gesundheitssystem der Kollaps drohte und unsere Intensivstationen voll zu laufen drohten. Wenn in Deutschland jeden Tag 2.000 Menschen an und mit Corona stürben, würde die Debatte nicht mehr von Ulf Poschardt geführt werden, weil seine Artikel über die Infantilisierung der Politik niemand lesen (vermutlich nicht einmal drucken) würde.

Niemand, der seine Sinne beisammen hat, wird bezweifeln, dass so gut, wie alle Menschen, die in unserem Land Verantwortung tragen in den letzten 12 Monaten der Pandemie auch Fehler gemacht und Sachverhalte manchmal falsch eingeschätzt hat. Das gilt für Politiker, Richter, Journalisten, Wissenschaftler. Niemand wird sich hier ausnehmen können. Ja und? Wer glaubt, dass die Demokratie eine Regierungsform ist, in der keine Fehler vorkommen, hat das Prinzip nicht verstanden. Man darf Fehler machen und man muss diese Fehler diskutieren, aber nicht nur in Krisenzeiten gilt: Wer Verantwortung übernimmt, hat auch das Recht, Entscheidungen so zu treffen, wie sie ihm vernünftig scheinen. Er muss sich dabei nur an die Regeln unserer Gesetze halten. In welcher Sprache er das tut und welche Prioritäten er setzt, kann und darf man kritisieren, verbieten darf man es ihm oder ihr nicht. Die gewählten Politiker erhalten Macht auf Zeit. Sie sind dem Souverän verpflichtet und seiner Wahlstimme. Sie haben nicht die Pflicht, sich Meinungsumfragen und veröffentlichter Meinung zu beugen, die oft auch im Widerspruch zur öffentlichen Meinung steht. Medien und ihre Vertreter sehen sich oft als vierte Gewalt neben der Legislative, Exekutive und Judikative. Praktischerweise unkontrolliert im Gegensatz zu den anderen Gewalten. Freie Presse und Meinungsfreiheit sind unter den höchsten Gütern, die wir in einer Demokratie besitzen dürfen. Dazu gehört auch die Freiheit, Unfug zu schreiben oder sich für Widersinniges einzusetzen. Medien und ihre Vertreter müssen – ohne beleidigt zu sein – auch hinnehmen können, dass die Regierenden nicht auf sie hören, wie falsch das objektiv gesehen auch sein mag, aber Meinungsfreiheit gilt eben auch für Politiker und Regierende. Im Unterschied zu Chefredakteuren, müssen sie sich IMMER Wahlen stellen.

In einigen Monaten werden zwei Gruppen in Deutschland leben: Geimpfte und Ungeimpfte. Hoffentlich sehr viel mehr Geimpfte als Ungeimpfte. Besiegt wird die Pandemie nur und erst dann sein, wenn wir genügend Menschen geimpft haben. In diesem Moment, in dem Beschränkungsmaßnahmen, die heute noch vernünftig und notwendig sind, nicht mehr notwendig, verhältnismäßig und wirksam sind, müssen sie beendet werden. Die mit diesen Maßnahmen verbundenen Einschränkungen der Rechte – übrigens nicht nur der Grundrechte – eines jeden Bürgers sind dann nicht mehr legal. Das betrifft alle Maßnahmen, die der Staat anordnet. Etwas völlig anderes ist das Prinzip der Vertragsfreiheit, dass es jedem (!) Anbieter überlässt, ob und mit wem er Geschäfte machen möchte. Genauso, wie die Buchhändlerin bestimmter Buchläden, Bücher nicht an Männer verkauft, und dazu der Grund, dass sie es nicht möchte, völlig ausreicht, werden auch Anbieter von Reisen, in der Gastronomie, in Sport- und Kultureinrichtungen frei wählen können, wem sie ihre Angebote unterbreiten und wem nicht. Ein Kriterium kann dann der Impfpass sein. Würde der Staat hier eingreifen und das Recht auf Vertragsfreiheit substantiell ändern wollen, würden wir in der Tat ganz neue Freiheiten und Unfreiheiten bekommen.

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